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25. April 2021

Diagnose F

Diagnose F – Science Fiction trifft Psyche
herausgegeben von Michael Tinnefld und Uli Bendick
Andro SF 138
p. machinery, Winnert, Februar 2021, 352 Seiten Softcover
ISBN 978 3 95765 223 2
ISBN 978-3 95765 231 7 Hardcover
ASIN : B08YZ77SXQ

Schon wieder ein Buch, das ich bespreche, obwohl ich selbst in ihm vertreten bin. Zu meinem Beitrag werde ich nichts sagen, aber die anderen haben es eindeutig verdient, besprochen zu werden. Uli Bendick und Michael Tinnefeld hatten die Idee, sich in SF Geschichten mit dem Thema »Psychische Probleme« zu beschäftigen, aber sie setzten bei ihren Autoren voraus, dass diese sich mit der Materie auseinandergesetzt hatten und nicht leichtfertig mit Klischees um sich warfen. Jeder Story sollte eine fachmännische Diagnose hintenan gestellt werden. Diese Idee fand ich überraschend und neu und wollte gerne mit dabei sein. Die Zusammenarbeit mit den beiden Herausgebern lief sehr kameradschaftlich und freundlich ab. Mit beiden würde ich jederzeit wieder zusammenarbeiten.
Das Buch ist als E-Book, Soft- und Hardcover erhältlich und es ist wunderschön geworden. Hier lohnt sich die Investition für das gebundene Buch. Jede Geschichte hat eine farbige Illustration von Uli Bendick oder Mario Franke erhalten.
Zu den einzelnen Storys:

Uli Bendick – Virtul
Marko Zarkowitzky wird völlig dehydriert und verwahrlost aus seiner Wohnung geborgen und ins Krankenhaus gebracht. Er ist einer dieser Spieler, denen ein Chip implantiert wurde und die Kontaktlinsen tragen, um die virtuellen Welten zu sehen. Beides kann nicht operativ entfernt werden, ohne den Patienten zu gefährden. Man schleust eine KI in den Chip ein, die den Spieler in die Realität holen soll.
Bendick wechselt zwischen spannender VR-Realität und Krankenhaus. Spannend und gekonnt verfasst. Gern gelesen.
Der Fall Häwelmann – Monika Niehaus
Ein Prozess, der auf Wunsch des Angeklagten in der Nacht stattfindet. Er wird grausamer Verbrechen beschuldigt, die er nicht bestreitet. Er hält allerdings jemand anderen für schuldig.
In nur wenigen Sätzen schafft Monika Niehaus ein Szenario zu schaffen, das den längsten diagnostischen Kommentar nach sich zieht. Schwer zu sagen, was spannender war.

Ein ganz normaler Tag – Isabell Hemmrich
Eine Frau wird von Außerirdischen untersucht, wobei man ihr große Schmerzen zufügt. Seither plagen sie Angstzustände und sie hat Flashbacks. Um nicht für verrückt gehalten zu werden, gibt sie vor, in der Kindheit sexuell missbraucht worden zu sein und bekommt verschiedene Medikamente verschrieben.
Hier leidet man förmlich mit der Protagonistin mit. Sehr einfühlsam geschrieben.

Elektrokrampftherapie – Michael Knabe
Ein Android, der panische Angst davor hat, dass seine Besitzerin sich mit Keimen infiziert und deshalb permanent die Klospülung betätigt. Ein Professor will gemeinsam mit seinem Gehilfen dem Geheimnis auf die Spur kommen und mit dem Bericht über seine Erfolge, die seine Assistentin für ihn verfassen wird, glänzen.
Eine lustigere Story, die sowohl eitle Professoren als auch Emporkömmlinge auf den Arm nimmt.

Ausgefallen – Markus Regler
Francesca hat einen Spielchip im Kopf, der Gedächtnislücken, Halluzinationen und Angstzustände auslöst. Der Hersteller bietet an, den Chip kostenfrei zu entfernen, aber ihr Arzt rät davon ab, weil es mit gesundheitlichen Risiken verbunden ist. Er möchte stattdessen Nanobots einschleusen, die den Chip zerstören sollen. Am Tag des vorgesehenen Eingriffs verhält sich ihr Arzt so seltsam, dass sie den Eingriff verschiebt und unverrichteter Dinge nach Hause geht.
Gut, spannend und flüssig geschrieben.
KISS – Lea Baumgart
Die KI eines Smart Homes entwickelt Paranoia. Sie lässt Eberhard den Hausherren im Dunkeln sitzen und weigert sich, ein Update aufspielen zu lassen. Sie ist in allen Belangen übervorsichtig. Eberhard versucht sie auszutricksen.
Die KI weist menschliche Züge auf und ist mir trotz ihrer verrückten Ideen sympathisch.

Symphonie des Glücks – Friedhelm Schneidewind
Eine Reporterin besucht eine denkende Maschine und deckt auf, wer sich dahinter verbirgt. Ein weltbekannter Dirigent, der vor ein paar Jahren spurlos verschwand. Er war krank und erklärte sich damit einverstanden, sein Hirn transplantieren zu lassen – in die Maschine.
Flüssig geschrieben mit interessantem Musikansatz.

Ton in Ton – Ellen Norten
Sybille, eine Freundin der Ich-Erzählerin, lädt zum Versöhnungskaffee ein. Die Erzählerin weiß nicht, was sie davon halten soll, hatte sie sich doch gerade mit dem Gedanken angefreundet, die dominante Freundin los zu sein. Diese hatte einen Farbtick. Wenn nicht alles Ton in Ton gehalten wurde, bereitete ihr das körperliche Schmerzen.

Die Partei hat immer Recht – Achim Stößer
Eine relativ kurze Story über einen der letzten Aufrechten, der gefangen genommen wird und nach einem Eingriff nicht mehr er selbst ist.
Obwohl sie so kurz ist, hinterließ die Geschichte einen bleibenden Eindruck bei mir, weil sie mich an »Einer flog über das Kuckucksnest« erinnerte.

Dunkles Echo – Martin Mächler
Ella hört einen Namen und bricht zusammen. Sie findet sich im Krankenhaus wieder, wo ihr Chef und väterlicher Freund sie begrüßt. In ihr wächst der Verdacht, dass der Mann ihr etwas verheimlicht.
Spannende Story, gut erzählt.

Ghostwriter – Markus Korb
Michael Bender ist ein Hobbyautor, der früher nicht so viel Zeit für sein Hobby fand, wie er gerne wollte. Das ist anders, seit er eine Maschine – den Ghostwriter – hat, mit der er mittelst Kopfimplantat verbunden ist. Sie kennt seinen Stil und formuliert grob gedachte Handlungsstränge für ihn aus. Wenn er in den Arbeitspausen an eine Story denkt, findet er sie fertig ausgedruckt nach der Arbeit zu Hause vor.
Aber schon wie bei King in Tommyknockers stellen sich auch hier Probleme ein.
Ich schätze, jeder Autor wäre zuerst von solch einer Maschine begeistert, aber Risiken und Nebenwirkungen sind nicht zu unterschätzen. Ich hatte den Eindruck, der Autor erzählte mit einem Augenzwinkern. Sehr gerne gelesen.

Das Leben des Gian Lee Schmitt – Martin Ingenhoven
Ein Transportgleiter kommt durch einen Meteoritenschwarm in Schwierigkeiten, hier kann nur noch der Experte helfen.
Diese Story gefiel mir besonders gut, weil sie nicht den Ansatz verfolgt, dem viele andere Autoren folgten. Viele lassen ihre Protagonisten unglaubliche Storys erleben, die von anderen Menschen nicht geglaubt werden, die als verrückt abgetan werden, aber dennoch real sind. Es gibt also oft gar keine Krankheit, sondern nur außergewöhnliche Ereignisse. Der Protagonist in dieser Story hat ganz eindeutig psychische Probleme, aber anstatt ihn zu »heilen«, nutzt man seine durch die Störung entstandene Fähigkeiten und macht ihm das Leben so angenehm wie möglich. Ein Plädoyer gegen die häufig zelebrierte Gleichmacherei. Hat mir sehr gut gefallen.

Das verrückteste Ding im ganzen Universum – Monika Niehaus
Doc erzählt, wie er einem Verbrecher ins Netz geriet, den er hinter Gitter gebracht hatte,
Man könnte fast den Eindruck gewinnen, Frau Niehaus hätte sich die bizarrsten Krankheitsbilder ausgesucht, um daraus kurze und unterhaltsame Storys zu produzieren. Sollte es den angekündigten Folgeband geben, hoffe ich, dass Frau Niehaus wieder mit von der Partie sein wird.

Bürger 39 – Nora Hein
David, ein Mann, der sich seiner Depression gerne hingeben würde, wird von seiner »Betreuerin« Lori ermuntert, zu essen, sich ordentlich anzuziehen, sie erinnert ihn an seine Termine. Seine Depression rührt daher, dass er aufgrund einer Seuche völlig isoliert von der Außenwelt leben muss. Seit kurzer Zeit hört er draußen Stimmen und hält sie für Wahnvorstellungen.

Monster – Alexandra Maibach
Eine neue Art der Therapie wurde erfunden. Die Zonen im Hirn, die für Depressionen und andere psychische Störungen zuständig sind, werden überschrieben. Aber auch hier gibt es Nebenwirkungen.
Interessanter Ansatz.

AI – Anna-Lina Grolker
Ein Alien hat Anpassungsschwierigkeiten und Heimweh.

Update F60.5 – Lyakon
Einst wurden KIs eingesetzt, um aus Putzrobotern effektives Kriegsgerät zu machen, was äußerst erfolgreich geschah, aber dann begann eine Entwicklung, die niemand vorhersehen konnte.
Äußerst unterhaltsam.

Vielen Dank für die Blumen – Gerhard Huber
Ein In-vitro-Mensch hat so seine Zwänge …

Auszeit – Marianne Labisch
Die erste Story, die ich über Diane geschrieben habe. Sie sitzt in einer Klinik für psychisch Kranke, weil sie einen Selbstmordversuch unternommen hat.

Folie à deux – Monika Niehaus
Ben hat heimlich seine Freundin geheiratet und präsentiert sie seinem Smart Home, das sich nun auch um die Frau im Haus kümmern soll. Die KI scheint Bens Frau nicht zu mögen.
Mehr verrate ich nicht, außer dass die Story gut zu unterhalten weiß.

Ero(bo)tomanie – Janika Rehak
Ein weiblicher Liebesroboter kommt zum Spieleerfinder, weil ihr Freier, ein weltbekannter Schauspieler, die Affäre mit ihr beendet hat und sie sich künstliche Erinnerungen einpflanzen lassen will. Das Angebot hört sich gut an und es soll noch eine Draufgabe geben.
Eine Art hard-boild Detektive Story, die dennoch nicht unbedingt vorhersehbar endet.

Morgellons Krankheit und Ekboms Irrtum – Rainer Schorm
Julia Grabling hat verschiedene Therapien hinter sich und nichts konnte helfen, immer noch glaubt sie, von Wesen, die unter ihrer Haut leben, befallen zu sein. Mit ihrer neuen Therapeutin geht sie ihre Krankengeschichte durch und verlässt die Praxis mit einer Warnung.
Eine kurze Story, die doch mit ihrer Pointe überzeugt.

Doktor T – Andreas Müller
Eine Frau wird in eine neuartige Klinik eingewiesen, weil sie dem Wahn unterliegt, viele Menschen seien durch Androide ausgetauscht worden und sie sich befleißigt fühlt, diese zu enttarnen.
Obwohl die Idee nicht neu ist und man das Ende vorhersieht, unterhaltsam geschrieben.

Adam – Wolf Welling
Dr. Frank N. Stein hat einen Mafia Bodyguard aus einer Schießerei geborgen und will sein zerstörtes Hirn rekonstruieren, indem er Hirnteile von anderen Patienten in das defekte dupliziert. Die ersten Übertragungen gelingen einwandfrei, aber dann …

Die Weisheit des Prometheus – Maike Braun
Die KI eines fremden Planeten lässt niemanden mehr landen und die Bevölkerung droht dadurch ausgehungert zu werden. Der Erschaffer dieser KI wird aus einem Gefängnis befreit und soll Abhilfe schaffen.
Interessant, wie auch Androiden sich wandeln können.

Der freie Wille – Anna Kügler
Eine junge Frau und eine Androidin leiden beide an einer psychischen Krankheit und jede meint, sie sei schlimmer dran.
Interessanter Vergleich.

Basteleien – Gerry Rau
Katie, 11 Jahre, erwirbt auf deinem Flohmarkt einen alten, ausgedienten E-Diener und restauriert ihn liebevoll.
Mehr kann ich nicht sagen, ohne zu spoilern. Behutsam aufgebaut und gut geschrieben.

Büchel – Johann Seidl
Dr. Simon und Karl haben eine Katastrophe überlebt. Aliens haben Strahlen ausgesandt, durch die die Menschen den Verstand verloren haben und sich bis aufs Blut bekämpfen oder wie Zombies durch die Gegend streichen. Karl ist auf dem geistigen Niveau eines Kindes und Dr. Simon nimmt Psychopharmaka, weshalb den beiden die Strahlen nichts anhaben konnten. Sie wollen den Aliens mit einer neuen Waffe den Garaus machen.
Hat mich sehr gut unterhalten. Gekonnt und spannend erzählt.

Game over & out – Aiki Mira
Littérature Nguyen muss zum ersten Mal eine Nacht alleine in der Notaufnahme bleiben. Dort kümmern sie sich um defekte Androiden, spielen Updates auf und alles gegen Vorauskasse. Ein ungebetener Gast erscheint mit einem noch ungebeteneren Patienten: einem Kind aus Fleisch und Blut.
Schon alleine durch die ausgefallene Sprache lesenswert.

Norma – Karin Leoch
Norma arbeitet für Sonar Beetle. Das ist eine Farm, die Käfer züchtet und unter beengten Verhältnissen hält, sodass ihre Flügel aneinander reiben und so eine Melodie erzeugen, die für Menschen tiefenentspannend wirkt. In letzter Zeit hat sie den Eindruck, nicht mehr alle Aufgaben bewältigen zu können, die von ihr erwartet werden. Außerdem hegt sie Mitleid mit den Käfern, die in ihren Augen ausgebeutet und weggeworfen werden.
Hat mir gut gefallen.

Berufliche Umorientierung – Gard Spirlin
Eine Sexandroidin fühlt sich überfordert und geht zu einem Psychologen, der sie auf unkonventionelle Art behandelt.
Gern gelesen

Paranoia – Monika Niehaus
Ein Quantencomputer mit Paranoia. Mehr kann ich zu dieser kurzen Story nicht verraten. Auch wieder sehr gut und unterhaltsam.

Narzissten-Selektion – Michael Tinnefeld
Kieran kontaktiert nach mehreren vergeblichen Behandlungsversuchen anderer Ärzte Doktor Capra-Lessu, der sich erst einmal mit den Diagnosen seiner Vorgänger vertraut macht. Kieran deutet an, dass er gegebenenfalls viele Menschen bedrohen könnte.
Die Story hat mir gut gefallen und mich überrascht.

Wie bei Anthologien üblich, fand ich nicht alle Geschichten gleich gut, wobei meiner Meinung nach keine schlechte dabei war. Ich fand es sehr interessant, wie die Autoren an das Thema herangegangen sind, wo es Überschneidungen gab und wo ganz andere Wege beschritten wurden. Dass dieses Thema mit Respekt behandelt wurde, gefiel mir ebenfalls sehr gut. Die farbigen Illustrationen sind sehr gelungen und haben mir gut gefallen. Sie werten dieses Buch noch einmal auf.

Vier von fünf Sternen, damit man mir keine Befangenheit nachsagt.

1 Kommentar »

  1. Moin moin,
    ich lese das auch gerade, habe aber erst zwei Stories durch. Es ist ja doch echt dick – ich hoffe, ich werde mal fertig, dann mache ich auch eine Rezension.
    Vielen Dank für deine! Und toll, dass du jede Geschichte rezensiert hast. Mal schauen, ob ich das auch schaffe.
    LG Yvonne

    Kommentar von Yvonne Tunnat — 29. April 2021 @ 09:10


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